Philipp Theisohn: Plagiat XIII
Willi Schedlmayer | 14. März 2011Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte.
Stuttgart: Kröner, 2009. Leinen, 577 Seiten.
Philipp Theisohn, geboren 1974, Oberassistent an der ETH Zürich.
Kapitel XIII. Verantwortlichkeiten: Postmoderne, Opfer, Täter – p. 460 ff.
Ein Kapitel, für das der Autor eine „Gebrauchsanweisung“ gibt. Er verspricht nicht weniger als „die ganze Wahrheit“ und verkündet nicht uneitel gar einen „Parforceritt durch die Theoriegeschichte“ (was peinlich wirkt, weil diese auf die kürzesten Texte aus dem Repertoire des Proseminars reduziert wird – oder (eher unverstandenes) Zitat bleibt.
Zunächst geht es um „Stiller“ von Max Frisch. Die Identitätsproblematik im Roman gilt ihm als Nachweis dafür: „Man kann der plagiarischen Welt letztlich nicht entrinnen, bestenfalls kann man ihrem Trug nicht verfallen und sie als einen solchen kenntlich machen“. (Plagiat, p. 465)
Mit Verweis auf Kristeva spricht er sogar von einer „Anerkennung des Plagiarismus als conditio moderna“ (Plagiat, p. 469)
Julia Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, Gallimard, Paris 2001 (deutsch: Fremde sind wir uns selbst, übersetzt von Xenia Rajewski, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2001)
In Bezug auf „Stiller“ spricht er von einer Textualisierung der Persönlichkeit – personale Identität verschwindet in einer Textproduktion, die keinem einzelnen Autor zuzuschreiben ist. (Plagiat, p. 469 f.)
Dieser Person als Text entspricht die theoretische Konstruktion von Text ohne Person. P.T. führt die Gruppe Tel Quel an – besonders aber Foucault und Barthes.
Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. Darin: Was ist ein Autor? (S. 234-270)
Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotis (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000.
Jacques Derrida: Grammatologie. Aus dem Französischen von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983 (Paris, 1967). stw 417. 541 S
Originalausgabe: DE LA GRAMMATOLOGIE. Les Éditions de Minuit, Paris, 1967. (Theison zitiert zwar aus dem Original die richtige Seite (227), nicht jedoch die Zeichensetzung – bei Derrida beginnt der Satz mit Großbuchstabe und er ist aus der Textumgebung durch Kursivdruck herausgehoben. Bei Derrida also: Il n’y a pas de hors-texte. Bei Theisohn dann »il n’y a pas de hors-texte« (Plagiat, p. 474) – seiner Interpretation des Satzes in seinem Kontext bei Derrida mag ich nicht folgen (germanistische Schwundstufe des Denkens in einer Fußnote).
Theisohns Résumé: „Hinter der Schrift lebt kein Autor mehr, der Autor ist selbst Effekt der Schrift.“ (Plagiat, p. 475)
Harold Bloom: The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry. New York: Oxford University Press, 1973; 2d ed., 1997. Deutsch: Einflußangst. Stroemfeld: Frankfurt am Main und Basel 1995.
Das Wilkomirski-Kapitel ist trotz seiner Kürze (Plagiat p. 481-90) elementar.
Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Jüdischer Verlag, 1995.
Literatur dazu in Wikipedia.
Wilkomirski/Doessekker zieht als Holcaust-Opfer eine Riesenshow ab – alles erstunken und erlogen. Er fingiert also einen „autobiografischen“ Text – und fälscht damit „seine“ Biografie .. aber freilich ist es vor allem eine Respektlosigkeit gegenüber den wahren Opfern. Aber diesem Sachverhalt ist Theisohn leider in keiner Weise gewachsen. Es ist nicht nur das unerträgliche Pathos
„Der Holocaust ist kein Text.“ – Plagiat, p. 481 – „Auschwitz ist keine Zeichenarsenal, aus dem man sich beliebig bedienen kann, sondern ein Raum, dessen Erinnerung bei den Opfern geblieben ist, ein Raum, der vor allen Vergemeinschaftungsversuchen geschützt bleiben muss: der Raum des Einzelnen.“ – Plagiat, p. 489
– es fehlt einfach ein angemessenes Hereinholen des historischen Zusammenhangs und seiner Diskussionen (bezeichnenderweise fehlt der Name Lanzmann ganz). Dennoch: vielleicht gerade wo Theisohn scheitert, bleibt die Möglichkeit des Weiterdenkens. Ausgerechnet den Fall Wilkomirski und das Wilkomirski-Syndrom in das Plagiatsmodell zurückzuführen wirkt gequält. Aber den Gedanken, das im Schreiben nicht nur das Schreiben eines anderen, sondern quasi auch sein Leben enteignet werden kann, halte ich für durchaus interessant.
So wäre das auch an das Schreiben von Max Frisch heranzutragen (Frisch, der schreibend immer wieder seine Partnerinnen schändet: ein parasitäres Schreiben durchaus; und wie verhält es sich mit Freud und Schreber? Eine Literaturgeschichte des parasitären Schreibens wäre sicher interessanter als eine Versammling von Plagiatsfällen. Theweleit hat ja schon Vorarbeit geleistet (Orpheus am Machtpol).
Jakob Jenö Littner (* 17. April 1883 in Budapest; † 6. Mai 1950 in New York) war ein jüdischer Briefmarkenhändler und Holocaust-Überlebender, dessen autobiographischer Bericht Mein Weg durch die Nacht dem Schriftsteller Wolfgang Koeppen als Vorlage für seinen Roman Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch (1948, neu veröffentlicht 1992) diente. (Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Littner)
Koeppen, Wolfgang: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Roman. Mit einem Nachwort von Alfred Estermann. Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2002.
Littner, Jakob: Aufzeichnungen aus einem Erdloch. München: Kluger, 1948. (Reprint: Berlin: Kupfergraben Verlagsgesellschaft, 1985).
Littner, Jakob: Mein Weg durch die Nacht. Mit Anmerkungen zu Wolfgang Koeppens Textadaption. Herausgegeben von Roland Ulrich und Reinhard Zachau. Berlin: Metropol Verlag, 2002.
Jörg Döring: „… ich stellte mich unter, ich machte mich klein …“. Wolfgang Koeppen 1933-1948. Frankfurt a.M., Basel 2001.
Alfred Estermann: Eine Art Blankoscheck zur freien literarischen Verwertung. In: Wolfgang Koeppen: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Frankfurt a.M. 2002, S. 139-191.
Reinhard K. Zachau: Das Originalmanuskript zu Wolfgang Koeppens „Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch“. Colloquia Germanica 2/99.
Theisohn bleibt beim Thema – und zeichnet die Plagiatserzählung nach (Plagiat, p. 491-501).
Zur Genese von Celans Todesfuge – http://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Weissglas
James Immanuel Weissglas (* 14. März 1920 in Czernowitz, damals Rumänien, heute Ukraine; † 1979 in Bukarest) war ein deutschsprachiger Dichter jüdischer Herkunft und Übersetzer.
Biografie
Wie sein Schulfreund Paul Celan entstammte Immanuel Weissglas einer deutschsprachigen jüdischen Familie. Weissglas überlebte 1941 bis 1944 die deutschen Lager in der Ukraine. Er zog nach 1945 nach Bukarest. Dort arbeitete er als Theatermusiker, Verlagskorrektor und Redakteur und übersetzte literarische Werke aus dem Deutschen ins Rumänische und umgekehrt.
Erst 1970 veröffentlichte Weissglas das Gedicht Er, das seither in der Literaturwissenschaft als eine der Quellen für Celans Todesfuge betrachtet wird. Jean Bollack urteilte: „Celans Todesfuge stellt eine Antwort auf Weissglas’ Gedicht dar, dessen Existenz er kannte. Er ordnet seine Bestandteile neu an, ohne zusätzliche hinzuzufügen: es sind dieselben Elemente, aus denen er aber etwas ganz anderes macht.“[1] Weissglas sah beide Gedichte „tief verankert im lyrischen Bewußtsein unserer Zeit. Parallelismen bezeugen keineswegs irgendeine Priorität.“ Auf Vorwürfe die hinter den Parallelen ein Plagiat Celans vermuteten, wandte er sich gegen das „schakalartige Schnüffeln […] mit dem unlauteren Ziel, eine dichterische Erscheinung von hölderlinscher Prägung in Frage zu stellen.“[2]
Werke
- Gottes Mühlen in Berlin. Gedichte. Bukarest, 1947.
- Kariera am Bug. Gedichte. Bukarest: Cartea Romaneasca, 1947.
- Der Nobiskrug, Gedichte. Bukarest: Kriterion-Verlag, 1972.
- Aschenzeit, gesammelte Gedichte. Aachen: Rimbaud, 1994. (Texte aus der Bukowina, 2). ISBN 3-89086-923-8.
- Vasile Alecsandri: Fürst Despot. Histor. Legende in Versen. Dt. von Immanuel Weissglas. Bukarest: Albatros-Verl., 1973.
- Vasile Voiculescu: Die letzten ersonnenen Sonette Shakespeares in der erdachten Übersetzung V. Voiculescus. Zweisprachige Ausg.; Dt. Umdichtung: Immanuel Weissglas. Bukarest: Albatros Verl., 1974.
- George Gutu / Martin A. Heinz / Andrei Corbea-Hoisie (Hrsg.): Stundenwechsel. Neue Perspektiven zu Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, Paul Celan, Immanuel Weissglas. U. a. Konstanz: Hartung-Gorre, 2002. ISBN 3-89649-796-0
- Helmut Braun (Hg.): Czernowitz. Die Geschichte einer untergegangenen Kulturmetropole Ch. Links Verlag, Berlin 2005 ISBN 386153374X
- Andrei Corbea-Hoisie, Grigore Marcu, Joachim Jordan (Hrsg.): Immanuel Weissglas (1920 – 1979) – Studien zum Leben und Werk Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 2010 ISBN 978-3-86628-326-8
Übersetzungen und Übertragungen
Literatur
Einzelbeleg
1. ↑ Jean Bollack: Dichtung wider Dichtung: Paul Celan und die Literatur. Wallstein, Göttingen 2006, ISBN 978-3-8353-0080-4, S. 47.
2. ↑ Paul Celan: Todesfuge. Mit einem Kommentar von Theo Buck. 2. Auflage. Rimbaud, Aachen 2002. ISBN 3-89086-795-2, S. 55–56
Ausführlich auch zur Affaire Claire Goll – Celan. Dazu:
Barbara Wiedemann (Hrsg.): Paul Celan – die Goll-Affäre: Dokumente zu einer “Infamie”. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2000