Philipp Theisohn: Plagiat XI
Willi Schedlmayer | 14. März 2011Philipp Theisohn: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte.
Stuttgart: Kröner, 2009. Leinen, 577 Seiten.
Philipp Theisohn, geboren 1974, Oberassistent an der ETH Zürich.
Kapitel XI. Irregehen (Moderne) – p. 377 ff.
Richard Muther, Kunsthistoriker, wird 1896 von Theodor Volbehr des Plagiats bezichtigt, obwohl er nicht mehr als eine Rezension schreiben hatte wollen. Aber je wortgewaltiger sich Muther wehrt, umso mehr schwillt die Plagiatserzählung an. Auch Hermann Bahr und Georg Simmel mischen mit in der Diskussion. (vgl. Georg Simmel: Über Plagiate. Offener Brief an Hermann Bahr, in: Die Zeit, 27.6. 1896)
Paul Albrecht, Anatom – im Selbstverlag erscheint ab 1890/91 sein umfangreiches Werk, in dem er Lessing des fortwährenden Plagiats überführt. Paul Albrecht: Leszing’s Plagiate.
Reine Philologie, wie Theisohn neidlos anerkennt, und doch das Werk eines Psychotikers. Albrecht springt 1894 in den Tod.
Die Geschichte von Oskar Reichmann findet P.T. in den Tagebüchern Kafkas (Tagebücher in der Fassung der Handschrift, p. 382-395) – Reichmann hat sie Kafka am 27. Februar 1912 noch selbst erzählt – bald darauf ist er bereits im Irrenhaus (Kafka, Tagebücher, p. 400). Die Logik der Plagiatserzählung hat die Struktur der Paranoia, wer sich auf sie einlässt, hat es in den Wahn nicht mehr weit.
Nun aber geht es nicht mehr um Psychoten, sondern um den Gründer der Psychoanalyse – Fließ und Freud streiten um die Entdeckung der „unbedingten Bisexualität“ .. bei Wikipedia ist es nachzulesen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Weininger:
Drei Jahre nach Weiningers Tod wurde Sigmund Freud in einen Urheberrechtsstreit verwickelt. Sein Freund Wilhelm Fließ, Hals-Nasen-Ohren-Arzt zu Berlin beschuldigte ihn, über seinen Patienten Hermann Swoboda, der auch Weiningers Freund war, das Fließ’sche Konzept der „unbedingten Bisexualität aller Lebewesen“ – das auch den zentralen Ausgangspunkt in Weiningers Analyse der Geschlechter darstellt – ausgeplaudert zu haben.
Der Gedanke „dauernder und notwendiger Bisexualität aller Lebewesen“ (Fließ an Freud am 26. Juli 1904), dass „die lebendige Substanz in allen Lebewesen männlich und weiblich ist“ (ebd.), stammt wohl von Wilhelm Fließ. Fließ fühlte sich von Freud um die Urheberschaft dieser Idee der ‚Bisexualität’ betrogen, was im Jahr 1904 zu einem brieflichen Schlagabtausch der früheren Freunde führt. Freud gibt Fließ gegenüber nur widerstrebend zu, diesen Gedanken – als üblichen Bestandteil seiner Therapie – an andere weitergegeben zu haben, beispielsweise an Hermann Swoboda (Freud an Fließ am 23. und 27. Juli 1904). Über Swoboda war dieser Geistesblitz anscheinend an Otto Weininger gelangt, der diese Idee dann in Geschlecht und Charakter offenbar erfolgreich vermarkten konnte. Freud verschweigt in der Diskussion mit Fließ im Jahr 1904 zunächst seine Begegnung mit Weininger im Jahr 1901. Als Freud dann – konfrontiert mit einer Aussage von Oscar Rie, Freund von Freud und Schwager von Fließ – die Kenntnis von dessen Manuskript eingesteht, spricht er gegenüber Fließ am 27. Juli 1904 kleinlaut von „meinem eigenen Versuch, dir diese Originalität zu entwenden“. Der Streit über die Urheberschaft dieser Weisheit führt dann zu einem heftigen öffentlichen Schlagabtausch zwischen Hermann Swoboda und Sigmund Freud auf der einen, Wilhelm Fließ und Richard Pfennig auf der anderen Seite. Der Konflikt entzweite die Freunde und hinterließ bei allen Beteiligten einen bitteren Nachgeschmack.
Ein halbes Duzend Männer streiten sich also darum, wer die eine oder andere Idee gehabt hat.
Hermann Swoboda: Die Perioden des menschlichen Organismus in ihrer psychologischen und biologischen Bedeutung. Leipzig, Wien 1904.
Hermann Swoboda: Die gemeinnützige Forschung und der eigennützige Forscher. Antwort auf die von Wilhelm Fließ gegen Otto Weininger und mich erhobenen Anschuldigungen. Leipzig, Wien 1906.
Oskar Pfennig: Wilhelm Fließ und seine Nachentdecker Otto Weininger und Hermann Swoboda. Berlin 1906.
Wilhelm Fließ: In eigener Sache. Gegen Otto Weininger und Hermann Swoboda, Berlin 1906
Wilhelm Fließ: Von den Gesetzen des Lebens. Campus Verlag, Edition Qumran, Frankfurt am Main 1985.
Wilhelm Fließ: Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen (In ihrer biologischen Bedeutung dargestellt).Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007.
Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ, 1887–1904. 2. Auflage. S. Fischer, 1999 (Mit Errata und Addenda).
Erik Porge: Schöne Paranoia. Wilhelm Fließ, die Plagiatsaffäre und Sigmund Freud. Aus dem Franz. von Mai Wegener (Originaltitel: »Vol d’idées?« erschien bei Denoel, Paris 1994, 318 S.), Verlag Turia + Kant, Wien, 2005 – Broschur mit Fadenheftung ISBN 978-3-85132-373-3
Dazu der Verlagstext (http://www.turia.at/navig/indxg.html): Der Berliner Arzt Wilhelm Fließ ist dadurch in die Geschichte eingegangen, dass er mit Sigmund Freud während der Anfänge der Psychoanalyse in regem brieflichem Gedankenaustausch stand. Freud seinerseits nahm über viele Jahre hinweg Anteil an der Arbeit von Fließ, der eigenwillige Theoreme über eine bisexuell konnotierte Periodizität des Lebens entwarf. Das Ende dieser Freundschaft wurde durch den Vorwurf von Fließ an Freud eingeleitet, er habe seine Ideen an Otto Weininger weitergegeben, der ihm so mit deren Publikation zuvorgekommen wäre. 1906 zettelt Fließ öffentlich einen Plagiatsstreit an, der eine Zeit lang die Gemüter erhitzte. Aber ist dies heute noch von Interesse?
Erik Porge hat bisher unbekanntes biographisches Material über Fließ und seine Familie zusammengetragen und analysiert die Hintergründe des Streits. Er greift dabei die These der »Paranoia scientifica« auf und zeigt, dass die wissenschaftliche Arbeit Fließ zeitlebens vor psychotischen Attacken bewahrt hat, dass sie andererseits die Spuren des psychotischen Phantasmas trägt.
Hier zeigt sich auch die allgemeinere Bedeutung dieses Streits. Indem sich Porge mit dem Umfeld des Entstehens der neuen Disziplin der Psychoanalyse, mit der Entwicklung von neuen Theorien in den Wissenschaften und der problematischen Vorstellung von »geistigem Eigentum« befasst, steht Schöne Paranoia an einem Kreuzungspunkt von kulturwissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Fragestellungen. Wo verläuft die Trennlinie zwischen dem tragfähigeren Wissen Freuds und den delirierenden Theorien von Fließ?
Das Buch enthält umfassendes Quellenmaterial.
Biographisches:
Erik Porge, geb. 1945, arbeitete als Psychoanalytiker sowie Psychiater in Paris. 1981 hat er die Zeitschrift Littoral mitbegründet, heute gibt er die Zeitschrift Essaim heraus. Er ist Autor zahlreicher Artikel und Bücher.
Heinrich Pudor: Bisexualität. Untersuchungen über die allgemeine Doppelgeschlechtlichkeit der Menschen. Gegen Wilhelm Fließ, 1906
Pudor: Naturist der ersten Stunde, vorübergehend Vegetarier, Antisemit – dennoch von den Nazis interniert .. eine sehr spezielle Zeitmischung
Georg Simmel: Über Plagiate. Offener Brief an Hermann Bahr, in: Die Zeit, 27.6. 1896.
Theisohn wiederum schließt das Konstrukt der Paranoia mit der Plagiatserzählung kurz.
Theisohn, Plagiat, p. 409 – mit Bezug auf Freuds Psychoanalytische Bemerkungen:
Am Anfang der Paranoia steht also die Furcht vor einer sexuellen Regression, vor dem Zusammenschluss mit einem eigentlich verdrängten Wunschobjekt, wobei der Wunsch als Verunreinigung empfunden wird und deswegen in sein Gegenteil verkehrt werden muss. Übertragen wir diese Formel auf das Feld der Literatur und ihrer Triebe, dann sind wir bereits mitten in der modernen Plagiatserzählung. Diese beginnt, wie gesehen, mit einer Reinheitsvorstellung.
Unsere kleine Spielerei hat uns somit zu dem Ergebnis geführt, dass die Plagiatserzählung als die adäquate Übersetzung der Dementia paranoides ins literarische Feld gelten kann – und tatsächlich wird sie von nun an immer wieder gemeinsam mit dem Komplex des Verfolgungswahns verhandelt. (ebd., p. 412)
Die Auseinandersetzung zwischen Freud und Fließ stellt eine Zäsur dar, denn erstmals wird das Plagiat hier vor großem Publikum als eine Krankengeschichte entzifferbar. (ebd., p. 423)
Dann aber in einem kühnen Sprung:
Wer Freud verstanden hat, der weiß, dass dort, im Unbewussten, die Worte miteinander verkehren, ohne dass sich irgendwelche Eigentümer dagegen erklären könnten. Sich diesen Verkehr bewusst zu machen und ihn zu akzeptieren, das wird man künftig als eine ›gesunde‹ Auffassung betrachten. Ein ganzer Zweig, man möchte sagen: der Hauptzweig moderner Literaturtheorie – das reicht von den Surrealisten bis in die Medientheorie des 21. Jahrhunderts hinein –, wird Plagiatserzählungen in diesem Sinne als eine Fehlinterpretation von Prozessen begreifen, die sich im ›Es‹ abspielen und für die es demzufolge auch keinen Veantwortlichen mehr geben kann. (ebd., p. 424)
Wer hier Freud „verstanden“ hat, ist niemand anderer als Kafka (Tagebücher, 392).
Die Vorausschau auf zukünftige Literaturtheorie aber liegt hier wie ein Hasenpemmerl auf dem Kuchenteller – Freud spielt sicher eine wichtige Rolle .. als Anreger für die Surrealisten, als Anknüpfungspunkt für Lacan oder Derrida – oder als Antipode für Deleuze & Guattari.
Aber Freud pfropft seine Theorie von der Paranoia ja auf einen „Fall“ auf – eben den des Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber.
Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: ›Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?‹. Mutze, Leipzig 1903 (Erstausgabe).
Theisohn drückt sich (zum Glück?) um eine Diskussion dieses Zusammenhangs (Fußnote 50, p. 408 f.).
Im Zusammenhang mit Wilkomirski wird er im übernächsten Kapitel dann von von der „Enteignung der Opfer“ sprechen – ob eine solche nicht auch im „Fall“ Schreber vorliegt, wäre zu fragen. Und auch, ob eine solche Enteignung nicht schon durch Freud selber vorgenommen wird.
Sigmund Freud: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia. In: Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen. III, 1. Hälfte, Franz Deuticke, Leipzig / Wien 1911.
Erneut abgedruckt in: Psychoanalytische Bemerkungen über […]. In: Gesammelte Werke. VIII, S. 239–320.
»Schreber war, so Lothane, einem dreifachen »Mord« unterworfen: dem »Seelenmord«, begangen von seinem Psychiater Paul Flechsig, der seinen Patienten einfach in die Irrenanstalt verbannte anstatt ihn angemessen zu behandeln; dem »Justizmord«, begangen vom Anstaltsdirektor Weber, welcher die definitive Entmündigung Schreber veranlasste und dem »Rufmord« Elias Canettis, der in Schrebers vermeintlicher Paranoia ein Modell für Hitlers psychische Disposition sah.«
– Lothane: Seelenmord und Psychiatrie. Zur Rehabilitierung Schrebers. (Zitiert im Wikipedia- Artikel über Schreber)
Henry Zvi Lothane: Seelenmord und Psychiatrie. Zur Rehabilitierung Schrebers. (Originaltitel: In defense of Schreber. Soul murder and psychiatry) (Originalausgabe bei Analytic Press, Hillsdale, 1992).
Lothane spart – zumindest im Zusammenhang oben – Freud aus, bezieht sich aber ausdrücklich auf Canetti; dieser in Masse und Macht:
»Von Erfolg als Kriterium hat eine gewissenhafte Untersuchung der Macht völlig abzusehen. Ihre Eigenschaften wie ihre Auswüchse müssen von überall her sorgfältig zusammengetragen und verglichen werden. Ein Geisteskranker, der, ausgestoßen, hilfslos und verachtet, seine Tage in der Anstalt verdämmert hat, mag durch Erkenntnisse, zu denen er verhilft, von größerer Bedeutung werden als Hitler und Napoleon, und der Menschheit ihren Fluch und ihre Herren erleuchten.«
– Elias Canetti: Masse und Macht. – Der Fall Schreber: Erster Teil (Ende) . (Zitiert wieder im Wikipedia-Artikel über Schreber)
Elias Canetti: Masse und Macht. Claasen, Hamburg 1960.
Im Abschnitt Herrschaft und Paranoia werden die Denkwürdigkeiten eingehend behandelt.
Der Fall Schreber zieht noch viel weitere Kreise – einige Anknüpfungspunkte:
Roberto Calasso: Die geheime Geschichte des Senatspräsidenten Dr. Daniel Paul Schreber. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980.
Jacques Lacan: Das Seminar. Buch III (1955–1956): Die Psychosen. Weinheim/Berlin: Quadriga, 1997.
Morton Schatzman: Die Angst vor dem Vater. Langzeitwirkungen einer Erziehungsmethode. Rowohlt, Reinbek 1984.
Gilles Deleuze und Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M. 1974 (orig. 1972)
Gilles Deleuze und Félix Guattari:Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992 (orig. 1980).
Eric L. Santner: My Own Private Germany. Daniel Paul Schreber’s Secret History of Modernity. Princeton University Press, 1996